Freitag, 23. Juli 2010

"Wir haben jahrelang über unsere Verhältnisse gelebt"

Den folgenden offenen Brief sendete ARD-Korrespondent Stephan Ueberbach an die Bundeskanzlerin, nachdem diese die neuesten Sparpläne mit dem Kommentar:
"Wir haben jahrelang über unsere Verhältnisse gelebt" vorstellte.

Ich finde, treffender geht's nichts mehr:



Liebe Bundesregierung, sehr geehrte Frau Merkel,

wen meinen Sie eigentlich, wenn Sie sagen, wir hätten
jahrelang über unsere Verhältnisse gelebt?

Ich jedenfalls habe das nämlich ganz sicher nicht getan. Ich
gebe nur das Geld aus, das ich habe. Ich zahle Steuern, bin
gesetzlich krankenversichert und sorge privat für das Alter
vor. Ich habe mich durch Ihre Abwrackprämie nicht dazu
verlocken lassen, einen überflüssigen Neuwagen zu kaufen, ich
bin kein Hotelier und kein Milchbauer. Und "Freibier für alle"
habe ich auch noch nie verlangt.

Wer war wirklich maßlos?

Meinen Sie vielleicht die Arbeitslosen und Hartz IV-Bezieher,
bei denen jetzt gekürzt werden soll? Meinen Sie die Zeit- und
Leiharbeiter, die nicht wissen, wie lange sie ihren Job noch
haben? Oder meinen Sie die Normalverdiener, denen immer
weniger netto vom brutto übrigbleibt? Haben die etwa alle
"über ihre Verhältnisse" gelebt?

Nein, maßlos waren und sind ganz andere: Zum Beispiel die
Banken, die erst mit hochriskanten Geschäften Kasse machen,
dann Milliarden in den Sand setzen, sich vom Steuerzahler
retten lassen und nun einfach weiterzocken als ob nichts
gewesen wäre.

Mehr Beispiele gefällig?

Zum Beispiel ein beleidigter Bundespräsident, der es sich
leisten kann Knall auf Fall seinen Posten einfach hinzuwerfen
- sein Gehalt läuft ja bis zum Lebensende weiter, Dienstwagen,
Büro und Sekretärin inklusive.

Zum Beispiel die Politik, die unfassbare Schuldenberge
aufhäuft und dann in Sonntagsreden über
"Generationengerechtigkeit" schwadroniert. Die von
millionenteuren Stadtschlössern träumt und zulässt, dass es in
Schulen und Kindergärten reinregnet. Die in guten Zeiten Geld
verpulvert und in der Krise dann den Gürtel plötzlich enger
schnallen will, aber immer nur bei den anderen und nie bei
sich selbst.

Liebe Frau Bundeskanzlerin, nicht die Menschen, sondern der
Staat hat dank Ihrer tätigen Mithilfe möglicherweise über
seine Verhältnisse gelebt. Ganz sicher aber wird er unter
seinen Möglichkeiten regiert.

Mit - verhältnismäßig - freundlichen Grüßen,